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Industrie wächst, Strom fehlt: Warum die Energieinfrastruktur jetzt neu gedacht werden muss

Andrew Emil
26. Aug. 2025

Deutschland ist bekannt für seine Gründlichkeit: Wer hier plant, plant langfristig – mit Blick auf Sicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit. Diese Haltung prägt nicht nur den Alltag, sondern auch die Wirtschaft. Doch genau diese Stärke wird jetzt zur Herausforderung: Die deutsche Industrie wächst, aber das Energiesystem hält nicht Schritt.

Zudem sind sich Bundesländer im Norden, wo viel Strom produziert wird, mit Blick auf das Stromsystem nicht einig mit Bundesländern im Süden, wo viel Strom verbraucht wird. Fest steht: Während das Bruttoinlandsprodukt jährlich um 2 bis 3 Prozent zulegt, steigt der Stromverbrauch nur um 1 bis 2 Prozent. Was auf den ersten Blick nach Effizienz klingt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als strukturelles Risiko: Die Lücke zwischen wirtschaftlichem Anspruch und realer Energieverfügbarkeit wird größer und sie wächst schnell.

Denn es geht längst nicht mehr nur um den Ausbau erneuerbarer Energien. Es geht um die Frage, ob Deutschland insgesamt in der Lage ist, neue Industrien zuverlässig mit Strom zu versorgen – von Rechenzentren über Elektromobilität bis hin zu digitalisierten Produktionsprozessen. Dafür braucht es nicht nur mehr Strom, sondern auch intelligente Netze, flexible Speicher und eine Infrastruktur, die mit der Geschwindigkeit der Transformation mithalten kann.

Das Problem: Viele Prognosen unterschätzen den tatsächlichen Bedarf. Neue Entwicklungen wie KI, industrielle Elektrifizierung oder Hyperscale-Rechenzentren tauchen in vielen Planungsmodellen kaum auf. Die Folge: Ein Stromnetz, das auf dem Papier ausreicht, in der Realität aber schnell an seine Grenzen stößt.

Ein Beispiel aus den USA zeigt, wie groß die Herausforderung ist: Der ehemalige Google-CEO Eric Schmidt erklärte vor dem US-Kongress, dass einzelne Rechenzentren künftig bis zu 10 Gigawatt Leistung benötigen könnten – das entspricht der Kapazität von zehn Kernkraftwerken oder dem Energiebedarf von 90 großen Stahlwerken. Der Ausbau neuer Kapazitäten hierfür dauert Jahre.

Dabei sind Rechenzentren nur ein Teil der Wahrheit. Der wahre Energiebedarf entsteht durch die Summe vieler Entwicklungen:

  • Industrielle Elektrifizierung, etwa in der Stahl-, Chemie- oder Zementindustrie, könnte den Stromverbrauch in Schlüsselbranchen bis 2035 verdoppeln.
  • Wärmepumpen und elektrische Heizsysteme verbreiten sich rasant – im Wohnbau ebenso wie in Quartierslösungen.
  • Elektromobilität allein könnte bis 2030 zusätzliche 80 bis 100 Terawattstunden pro Jahr in Deutschland benötigen.

Diese Trends sind in vielen Energieplanungen noch nicht vollständig berücksichtigt – weder beim Netzausbau noch bei Speicher- oder Erzeugungskapazitäten. Das Risiko: Deutschland unterschätzt den Bedarf und steht dann vor einer Versorgungslücke, die sich nicht kurzfristig schließen lässt.

Die strategische Lücke: Warum Prognosen den wahren Strombedarf unterschätzen

Aktuelle Studien zeigen: Zwischen den offiziellen Energieprognosen und dem tatsächlichen Bedarf klafft eine wachsende Lücke. In Szenarien, die Digitalisierung, KI, industrielle Elektrifizierung und Mobilität realistisch einbeziehen, liegt der Strombedarf bis 2030 um bis zu 25 Prozent höher als bislang angenommen.

Die Folgen wären gravierend:

  • Infrastrukturprojekte verzögern sich, weil Kapazitäten für die Projektdurchführung fehlen.
  • Zukunftsbranchen verlieren an Tempo, weil sie keine gesicherte Energieversorgung erhalten.
  • Kurzfristige Gasimporte werden zur Notlösung – teuer und volatil.
  • Wettbewerbsfähigkeit leidet, weil Investitionen in andere Märkte abwandern.

Diese Lücke ist kein theoretisches Risiko – sie ist real, messbar und betrifft nicht nur die Energiebranche, sondern die gesamte industrielle Wertschöpfungskette.

Globale Energieoffensive: Was Deutschland von China und den USA lernen kann

Andere Volkswirtschaften handeln bereits entschlossen:

  • China hat allein 2023 in einem beeindruckenden Tempo über 60 Gigawatt neue Erzeugungskapazität und 140 Gigawattstunden Batteriespeicher installiert – ein klares Signal für strategische Skalierung.
  • US-Unternehmen investieren direkt in Energieprojekte: Verträge über 500 Megawatt Kernenergie, Pläne für 5 Gigawatt modulare Reaktoren – ein Schritt in Richtung Energieunabhängigkeit.
  • Europa hingegen verliert an Boden; insbesondere bei Investitionen in Speichertechnologien, Netzausbau und flexibler Erzeugung.

Die Botschaft ist eindeutig: Wer seine Energieinfrastruktur konsequent an den wirtschaftlichen Bedarf anpasst, wird die nächste industrielle Welle anführen. Wer zögert, riskiert den Anschluss – nicht aus Mangel an Innovationskraft, sondern aufgrund fehlender Umsetzung.

Zukunftssichere Energieversorgung: Was jetzt zählt

Unternehmen und öffentliche Akteure müssen dabei auf ein Ökosystem aus Partnern setzen, die es ermöglichen, Energieinfrastruktur ganzheitlich zu denken und umzusetzen – mit Engineering-Expertise, digitaler Kompetenz und internationaler Projekterfahrung. Zu den Kern-Aspekten zählen:

  • Machbarkeits- und Bedarfsanalysen: Realistische Szenarien, die KI-Wachstum, Dateninfrastruktur, BIP-Kopplung und Elektrifizierung berücksichtigen.
  • Front-End Engineering Design (FEED): Integrierte Planung von Kraftwerken, Speichern und Netzkomponenten, inklusive digitaler Steuerung und intelligenter Netzanbindung.
  • Projektmanagement & Owner’s Engineering: Disziplinierte Umsetzung mit Fokus auf Qualität, Zeitpläne, Stakeholder-Alignment und regulatorische Anforderungen.
  • Digitale Infrastruktur & Automatisierung: Systeme wie DERMS, SCADA, KI-Prognostik und Cybersicherheit von Anfang an integriert.
  • Technologieübergreifende Umsetzung: Von Solar und Wind über Wasserstoff, Speicher und Carbon Capture bis zum Netzausbau.

Die gute Nachricht: Deutschland muss nicht bei null anfangen, um die Energieinfrastruktur der Zukunft skalierbar, resilient und sektorübergreifend zu denken. Wichtig ist dabei neben der Technologie auch die Fähigkeit, sie strategisch zu integrieren: Stromerzeugung, Speicher, Netze und digitale Steuerung müssen als Gesamtsystem geplant und umgesetzt werden. Nur so entsteht eine Infrastruktur, die nicht nur funktioniert – sondern auch wirtschaftlich tragfähig ist.

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Autor

Andrew Emil

Andrew Emil

Head of Energy Transition, Capgemini Engineering Deutschland
Andrew begleitet führende Unternehmen aus Energie, Industrie und Chemie bei der Umsetzung komplexer Energieprojekte – von der Konzeptphase bis zur Inbetriebnahme. Sein Fokus liegt auf Power-to-X, Batteriespeichern und hybriden Energiesystemen. Er ist überzeugt, dass Europas Wettbewerbsfähigkeit vom schnellen Ausbau moderner Energieinfrastrukturen abhängt.