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OEMs: „Nach 2025 droht Chaos“

08/2022

Interview Partner: Elmar Frickenstein, Former Senior VP at BMW, Mini and RR

In einer neuen Studie hat Capgemini Invent Betriebssysteme und Middleware in der Autoindustrie analysiert. Das Resümee: Singuläre Lösungen der OEMs könnten den mittel- und langfristigen Erfolg der umsatzstarken Branche gefährden. Fragen an Elmar Frickenstein, langjähriger Manager von BMW und Mitgründer der Automotive Software Interfaces & Middleware Initiative (ASIMI).

Herr Frickenstein, Sie haben intensiv an der Studie „The Power of Operating Systems and Middleware“ mitgewirkt. Warum wurde diese Studie auf den Weg gebracht?

Im Rahmen der Gründung von ASIMI haben Prof. Alois Knoll von der TU München, Uwe Michael, ehemaliger Senior Vice President von Porsche und ich ein Idealbild einer Middleware für die Automobilindustrie geschaffen. Wichtige Merkmale sind dabei die zentrale Architektur, die Trennung der Hardware von der Software, eine Mikro-Service-Struktur, eine durchgängige Entwicklungsmethodik, Tools, Prozesse und vieles mehr.

Damit sind wir auf Fachexperten der Autoindustrie zugegangen und habe Interviews geführt. Das Verblüffende für uns war, dass die Experten aus der Zuliefer- und Chipindustrie sowie den OEMs im Prinzip alle Ziele von ASIMI bestätigt haben. Sie haben sich über die Vielfalt an Lösungen gewundert und geärgert, weil klar war, dass der Aufwand einer späteren Integration unendlich teuer würde und die Lösungen untereinander nicht passen würden.

Das hat uns dazu veranlasst, zusammen mit Capgemini eine Marktstudie durchzuführen, um systematisch alle Lösungen miteinander zu vergleichen. Insgesamt 60 Lösungen wurden analysiert und bewertet. Es stellt sich heraus, dass viele davon nur für eine Domäne entwickelt werden, einige als Open Source, andere gleich mit mehreren Partnern oder mit einem klaren Zieltermin. Die Studie hat auch gezeigt, dass die meisten Lösungen von der Geschwindigkeit und vom Start of Production (SOP), also dem Start der Serienproduktion, getrieben werden. Jeder will sehr schnell seinen SOP mit maximaler Qualität erreichen.

Einige größere Zusammenschlüsse mit mehreren Partnern sind nur im Ansatz erkennbar – dazu gehören etwa SOAFEE, Eclipse oder AutoSar. Auffallend war aber auch, dass sich einzelne Firmen auf den Weg gemacht haben, um einen De-Fakto-Standard zu schaffen, mit dem Ziel, dieses Ergebnis dann mit anderen zu teilen. Ich habe Zweifel, dass das funktioniert.

Sie waren selbst lange Jahre im Management eines OEMs aktiv. Was muss sich ändern, damit die deutsche und europäische Automobilindustrie mittel- und langfristig konkurrenzfähig bleibt?

In der IT-Industrie gibt es ein wichtiges Motto: „The Winner takes it all“. Damit ist ganz klar der Skalierungsansatz einer Lösung gemeint. Denken sie an die beiden großen OS-Systeme wie Android oder iOS. Sie skalieren milliardenfach in der Welt der Consumer Electronics. Oder nehmen sie Apple Carplay oder Android Auto – beide Systeme sind in der Zwischenzeit in bis zu 100 Millionen Fahrzeugen integriert.

Die Automobilhersteller müssen ihre eigenen Grenzen überwinden und zusammen mit ihren Partnern und Wettbewerbern skalierbare Lösungen schaffen. Die Fahrzeugindustrie hat dieses schon einmal sehr erfolgreich geschafft. AutoSar ist ein gutes Beispiel für eine Skalierung. Weltweit haben die meisten Fahrzeuge in fast allen ihren Steuergeräten AutoSar-Software verbaut. AutoSar ist für die heutige Zeit allerdings leider nicht mehr wettbewerbsfähig, weil unterschiedlich Stacks entwickelt wurden und die Entwicklungsgeschwindigkeit zu langsam für die Autoindustrie und damit nicht mehr zeitgemäß ist.

Die Industrie muss sich zusammentun, um gemeinsame E/E-Architekturen zu definieren, gemeinsam Methoden und Tools zu vereinbaren und wieder lernen, zusammenzuarbeiten und Joint Ventures zu gründen. Ohne eine Zusammenarbeit oder einen Open-Source-Ansatz ist eine Skalierung nicht möglich und die Industrie fährt spätestens 2025 ungebremst an die Wand.

Linux, Android oder AutoSar werden heute in einem nicht differenzierenden Umfang eingesetzt. Der Kunde in der Autoindustrie ist jedoch nur dann bereit, für Kundenfunktionen etwas zu zahlen, wenn sie differenzierend sind.

„Ohne eine Zusammenarbeit oder einen Open-Source-Ansatz ist eine Skalierung nicht möglich und die Industrie fährt spätestens 2025 ungebremst an die Wand.“  

Was macht die deutsche Autoindustrie schon gut – und wo muss sie noch nachlegen?

Die Autoindustrie hat sehr gut verstanden, dass die Software und die Daten der „Schatz der Zukunft“ sind. Sie stellt viele gute Softwareentwickler ein und schafft damit weitere Freiheitsgrade für die Zukunft. Gleichzeit ist auch damit der „War of Talent“ in der Automobilindustrie angekommen – jedoch mit dem Nachteil, dass die Automobilindustrie gegenüber der IT-Industrie sehr wahrscheinlich das Nachsehen hat. Für Tier-1- und Tier-2-Zuliefer sowie OEMs wird es immer wichtiger, für sich zu klären, wofür sie Software brauchen und einsetzen wollen.

Größere Zusammenarbeit mit der IT-Industrie (Amazon, Microsoft, Tencent oder Alibaba) ist im Kern erkennbar, aber bei weitem noch nicht ausreichend. Wenn die OEMs es nicht schaffen, zusammen mit der IT-Industrie einen gemeinsamen, skalierbaren Weg zu finden, dann gewinnt die IT-Industrie.

Die Software, die Daten, die Entwicklungsgeschwindigkeit und die Computerpower sind die erfolgskritischen Faktoren. Bei der Computerpower kooperieren immer mehr Chiphersteller mit den OEMs. Nvidia, Mobileye, Arm oder Qualcomm bieten der Automobilindustrie ihre Lösungen und Power an. Diese Kooperationen stemmen sich gegen das Ziel der OEMs, sich Halbleiterhersteller bei einer neuen Vergabe neu auswählen zu können – eine Trennung zwischen Hard- und Software ist damit unausweichlich.

AutoSar und Genivi waren bis jetzt wirklich sehr gute Projekte und Initiativen von der Automobilindustrie für die Automobilindustrie. COVESA, Catena-X und auch SOAFEE und Eclipse können wichtige Initiativen für die Zukunft werden.

Die OEMs brauchen einen gemeinsamen, größeren Architekturwurf (siehe ASIMI # https://asimi.eu). Heute macht jeder OEM seine eigene Architektur, obwohl sie nicht differenzierend ist. Der große Wurf wird nur gelingen, wenn man sich von der Legacy trennt und einen größeren, gemeinsamen Umbruch schafft. Tesla, Nio, Rivian, LUCID oder Polestar schaffen eine grundlegenden Neuansatz ohne Legacy, aber dennoch mit der IT-Industrie. Auch Stellantis hat diese Trennung zugelassen.

Eine Befragung von ASIMI hat gezeigt, dass viele Player im Markt (von OEMs über Tier-X bis zu Softwareunternehmen) durchaus überzeugt davon sind, dass Ökosysteme und die Transformation das Geschäft stark beeinflussen werden, dass Softwarekomplexität managebar bleiben muss, um etwa Updates über den gesamten Lebenszyklus eines Produktes zu garantieren und die Kollaboration aller Partner ganz entscheidend für den Erfolg sein wird. Hat Sie das überrascht?

Die Befragung hat wunderbar aufgezeigt, dass man sich bei dem Ziel im Wesentlichen einig ist. Diese Einigkeit war bei Tier-X-Zulieferern, Chipherstellern, OEMs oder auch in der Software-Community gegeben. Das war für mich aber auch keine Überraschung. Die Ziele sind so klar und eindeutig, um die Herausforderung der Zukunft zu gestalten und die Komplexität zu beherrschen.

Die firmenspezifische Ableitung und Umsetzung in seiner Vielfalt hat mich in der Tat sehr gewundert. Alle suchen ihren eigenen schnellen, effizienten und kostengünstigen Weg, weiter mit dem Fokus auf Altfahrzeuge und den nächsten SOP.

Die Skalierung, der Re-Use, der Einsatz der Talente, die Zusammenarbeit mit den Chip-Herstellern und der IT-Industrie und die übergreifenden Kooperationen und Joint Ventures werden mit einer nachgeschalteten Priorität behandelt.

Bei all dieser Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit auf der Lösungsseite habe ich noch nie gehört, dass sich ein OEM als Hyperscaler aufstellen möchte, um sich mit den IT-Unternehmen auf Augenhöhe zu begegnen.

Last but not least: Die drei wichtigsten Erkenntnisse der Studie aus Ihrer Sicht!

Erstens: Alle zusammen haben die gleichen Erkenntnisse und fast das gleiche Ziel. Alle OEMs sind dabei, ihre Lösung für die nächsten Jahre ab 2025 in Serie zu bringen und befürchten für 2025 zugleich ein Chaos – und dass sie ihre Komplexität nicht mehr meistern können.

Zweitens: Erste kleine zarte Pflänzchen zur Zusammenarbeit sind am Horizont erkennbar. Dazu gehören SOAFEE, Eclipse, und auch AutoSar, die sich mit bereits vielen wichtigen Partner neu aufgestellt haben.

Drittens: Die Automobilindustrie steht vor der größten Herausforderung in ihrer Geschichte. Für die Skalierung innerhalb der Automobilindustrie und darüber hinaus ist noch sehr viel zu tun. Open Source kann hier eine entscheidende Rolle spielen. Der Weg dahin ist für die meisten allerdings noch nicht klar.

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Anke Rieche

Global Automotive Program Lead
Anke ist eine Business Development Expertin mit 20 Jahren Erfahrung in den Bereichen Software, Infrastruktur und Beratung. Als hochmotivierte Teamplayerin mit ausgeprägter Kundenorientierung hat sie sich einen Namen für die Entwicklung und Umsetzung von Markteinführungskonzepten gemacht, insbesondere im Zusammenhang mit den SAP-Plattformen S/4 HANA und Intelligent Enterprise, vor allem im Automobilmarkt. Anke ist davon überzeugt, dass Automobilzulieferer und OEMs durch den Einsatz der Automotive Cloud-Lösungen von SAP, einschließlich der gemeinsamen Entwicklungen von SAP und Capgemini und der Co-Innovation mit Pilotkunden, neue Dimensionen der Agilität und Geschwindigkeit erreichen können.