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Agenturmodell: Wie lange bleiben OEMs ohne Vertriebstransformation wettbewerbsfähig? – Ein Investment Case

Anne Junge
21. Okt. 2020
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In unserem ersten Blogbeitrag haben wir die Chancen und Herausforderungen bei der Einführung des Agenturmodells beleuchtet und das entwickelte „Capgemini Invent Agency Sales Model Framework“ vorgestellt.

Während unser zweiter Beitrag die Bedeutung des Handels thematisiert, zeigt unser dritter Beitrag wie eine erfolgreiche Skalierung des Agenturmodells gelingt.

Im Folgenden zeigen wir, anhand unserer Framework Dimension Step up, welche Faktoren langfristig zu Umsatzsteigerungen und Kostenreduzierung führen und ab wann sich ein Agenturmodell rechnet.

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Abbildung 1: Das Capgemini Invent Agency Sales Framework

Neue Antriebsformen, Dekarbonisierung, autonomes Fahren, neue Mobilitätsformen und neue Wettbewerber. Die Herausforderungen in den kommenden Jahren sind vielfältig. Zeitgleich befinden sich die Automobilhersteller mitten in der digitalen Transformation. Die notwendigen Investitionen in die eigene Zukunftsfähigkeit sind immens. Doch kann das aktuelle Geschäftsmodell mit den Herausforderungen Schritt halten?

Fakt ist, etablierte Automobil-hersteller leisten sich heute noch ein sehr kostenintensives dreistufiges Vertriebs- und Distributionsmodell bei dem ca. 25-30% der Kosten beim Kauf eines Neuwagens auf den Vertrieb entfallen. Ein großer Wettbewerbsnachteil gegenüber neuen Wettbewerbern wie Tesla, Byton, Genesis, Nio oder auch Spin-Offs etablierter Hersteller wie Polestar oder Cupra. Diese setzen von Beginn an auf neue Vertriebsmodelle wie z.B. dem Agenturvertrieb und realisieren mit ihrem Greenfield-Ansatz deutlich geringere Vertriebsausgaben. Doch nicht nur kostenseitig unterscheiden sich diese neuen Konzepte zu dem klassischen dreistufigen Vertrieb. Der direkte Zugang zu Kundendaten im Agenturmodell ermöglicht auch auf der Umsatzseite neue Ertragspotentiale zu realisieren.

Natürlich gibt es auch hier zwei Seiten der Medaille: Um eine etablierte Vertriebsorganisation nachhaltig zu transformieren bedarf es zunächst hohen Investitionen in Organisation, Prozesse und IT-Systeme. Hinzu kommen meist organisch gewachsene, heterogene Strukturen in den einzelnen Landesgesellschaften. Die Einführung des Agenturmodells kann hier als Chance gesehen werden, harmonisierte Prozesse und Systeme zu etablieren. Dies bedarf jedoch zusätzlicher Anstrengungen. Entscheidungsträger sollten beide Seiten beleuchten und neben den einmaligen Investitionskosten die langfristigen Kostensenkungs- und Umsatzpotentiale evaluieren.

Das Agenturmodell als Hebel zur Umsatzsteigerung

Wir gehen davon aus, dass durch die Einführung des Agenturmodells langfristig 2-4% Umsatzsteigerungen zu erzielen sind.

Steigerung der Transaktionspreise

Transaktionspreise, also die tatsächlich erzielten Verkaufspreise, sind für Automobilhersteller einer der größten Profithebel. Eine Erhöhung der Transaktionspreise wirkt sich 1:1 auf den Gewinn der Vertriebsorganisation aus. Im klassischen dreistufigen Vertriebsmodell agiert der Händler als eigenständiger Kaufmann und bestimmt letztendlich den Transaktionspreis. Die maximale Preisuntergrenze wird dabei aus einer fixen Händlermage plus situative Absatzfördermaßnahmen für ein bestimmtes Modell oder Kundengruppe bestimmt. Jährlich investieren OEMs und Importeure (Markt) dreistellige Millionenbeträge in Absatzfördermaßnahmen und nehmen dadurch negativ Einfluss auf die Transaktionspreise in den jeweiligen Märkten. Durch eine fehlende Datengrundlage kann jedoch keine systematische Erfolgskontrolle und Optimierung der Maßnahmen durchgeführt werden. Dies führt dazu, dass Absatzfördermaßnahmen meist reaktiv eingesetzt werden, um kurzfristige Absatzstimulationen zu erzielen.

Im Agenturmodell bestimmt der Importeur den Transaktionspreis in einem Markt. Zudem kann er durch zentralisierte Verkaufssysteme und ein vertriebsstufenübergreifendes Datenmanagement Transaktionspreise und Absatzfördermaßnahmen strategisch planen und dynamisch, um einen möglichst hohen Transaktionspreis zu erzielen. Neben der Optimierung von Verkaufsfördermaßnahmen wird zudem durch einheitliche Preise in einem Markt der Intra-Brand-Wettbewerb verhindert. Langfristig führen beide Effekte zu steigenden Transaktionspreisen.

Höhere Verkaufsvolumen

Der neue Datenschatz durch das Agenturmodell eröffnet dem Importeur neue Möglichkeiten: Weg von kurzfristigen Maßnahmen zum Abverkauf bestimmter Fahrzeugmodelle, hinzu einem ganzheitlichen Customer Lifetime Value Management. Durch die neuen Daten kann zielgerichtet ausgewertet werden, wie ein Kunde sich verhält, wie hoch seine Zahlungsbereitschaft ist oder wie loyal er zu der Marke steht, um im richtigen Moment die entscheidenden Kaufimpulse zu setzen. Dadurch können neue Kunden gewonnen, die Umschlaghäufigkeit erhöht und die Abwanderungsquote reduziert werden. All das zahlt auf den Customer Lifetime Value ein und erhöht nachhaltig die Verkaufsvolumen.

Upselling Potential

Neben der Steigerung von Transaktionspreisen und höheren Verkaufsvolumen, können Upselling Potentiale realisiert und neue Geschäftsmodelle effizienter umgesetzt werden. Waren im klassischen Vertriebsmodell Fahrzeugverkäufe und digitale Services voneinander getrennt, werden sie im Agenturmodell zentral aus einer Hand angeboten. Dadurch kann ein geschlossenes Ökosystem entstehen, in dem Kunden über ihren gesamten Kundenlebenszyklus gehalten werden können. Über dieses Ökosystem wird es Importeur deutlich leichter fallen, dem Kunden zusätzliche Produkt- und Dienstleistungen, digitale Services neue Mobilitätsformate anzubieten.

Das Agenturmodell als Hebel zur Kostenreduzierung

Wie bereits erwähnt entfallen knapp ein Viertel der Kosten beim Autoverkauf auf den Vertrieb. Die Kosten verteilen sich hier auf alle drei Wertschöpfungsstufen. Insgesamt lassen sich durch das Agenturmodell auf allen Stufen zusammen ca. 6 – 8% Kosten einsparen.

Kostensenkung durch Zentralisierung

Im dreistufigen Vertrieb sind bisher viele Funktionen dezentral organisiert und jeder Händler verfügt über eigene Bereiche für Marketing und Kundenservice. Auch werden kostenintensive Online-Sales Lösungen durch die einzelnen Händler dezentral betrieben. Lag der Fokus des Importeurs bisher eher auf der administrativen Steuerung des Händlernetzes, so tritt er im Agenturmodell in eine operative Rolle mit vielfältigeren Kompetenzen. Dazu gehört z.B. der Betrieb zentraler Online-Shops, eine zentrale Leadgenerierung sowie der Aufbau zentraler Kundenservice- und Marketing-Abteilungen. Durch diese Shared Service Center werden in der Vertriebsorganisation redundante Funktionen reduziert und Skaleneffekte realisiert. Durch die Bündelung von Kompetenzen und die Festlegung von Standards kann zudem die Qualität gesteigert werden.

Aufwandreduzierung durch schlanke und digitale Prozesse

Neben der Zentralisierung von Kompetenzen, tragen auch die schlankeren Verkaufsprozesse im Agenturmodell und die initialen Investitionen in eine harmonisierte IT-Systemlandschaft zu einer Kostensenkung in der Vertriebsorganisation bei. Aus unserer Erfahrung können durch einen digitalen und schlanken Agenturverkaufsprozess 30 – 40% administrativer Aufgaben im Handel und bei Importeur eingespart werden. Dies liegt darin begründet, dass aufwendige Preisverhandlungen, komplexe manuelle Freigabeprozesse sowie Systemwechsel entfallen. Durch die erwartete Steigerung des Online-Verkaufs und das Angebot von Self-Services werden die Handelsbetriebe darüber hinaus entlastet.

Kostensenkung durch Ressourcenentlastung

Auch transparente und einheitliche Preise tragen indirekt zu einer Reduzierung der Aufwände im Handel bei. Wie unsere Studie herausgefunden hat, werden auf Grund von Preisverhandlungen vor Kaufabschluss im Durchschnitt 2,5 Händler besucht. Dadurch entstehen Aufwände in der Handelsorganisation, welche durch einheitliche Preise im Agenturmodell vermieden werden. In einem mittelgroßen Markt kann allein dadurch ein Einsparungspotential von 20 Mio. Euro pro Jahr realisiert werden.

Break-Even Relevanz

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Abbildung 2: Langfristige Kosten- und Umsatzübersicht nach Einführung des Agenturmodells

Um eine fundierte Investmentent-scheidung zu treffen, müssen die initialen Implementierungskosten und die langfristigen Kosten- und Umsatzpotenzialen gegenübergestellt werden. Aus unseren Erfahrungen zahlt sich das Investment für einen mittelgroßen Markt nach ca. 4-5 Jahren aus. Erfolgsentscheidend für das getätigte Investment ist eine faire Verteilung der zu erwartenden Gewinne. Dazu sollten die Entscheidungsträger bereits bei Ausgestaltung des Agenturvertriebs und bei der Aufstellung des Investment Cases ein transparentes Vergütungs- und Bonusmodell zusammen mit dem Handel entwickeln. Denn nur mit einer Partnerschaft auf Augenhöhe wird kann das Agenturmodell erfolgreich dazu beitragen die Herausforderungen in den kommenden Jahren zu meistern.

What‘s Next?

Die Einführung des Agenturmodells erfordert neben hohen Investitionskosten vor allem tiefgreifendes Commitment aller Partner über die gesamten Vertriebskanäle hinweg. Ein langer Planungshorizont zur nachhaltigen und erfolgreichen Einführung des Agenturmodells ist unerlässlich. Die wesentlichen Treiber des Investment Cases sind zusammengefasst:

  • Steigerung der Transaktionspreise durch vertriebsstufenübergreifendes Pricing und dynamische Absatzfördermaßnahmen
  • Erhöhung der Volumen durch datenbasierte und kundenindividuelle Ansprache entlang der des gesamten Kundenlebenszyklus
  • Nutzung des Upselling Potentials durch die gewonnen Kundendaten und dem Angebot von Fahrzeugen und Services aus einer Hand
  • Senkung der Kosten durch Zentralisierung von Funktionen und Minimierung von Redundanzen
  • Nutzung von schlankeren Verkaufsprozessen zur Entlastung des Vertriebssystems und -ressourcen

Sollten Sie Fragen haben, freuen wir uns auf einen gemeinsamen Austausch.

Vielen Dank an die Co-Autoren Fabian Piechottka, Oliver Straub und Nepomuk Kessler.


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Autorin

Anne Junge

Vice President | Head of Customer Transformation, frog, part of Capgemini Invent Germany
Anne ist Vice President bei Capgemini Invent und verfügt über mehrjährige Erfahrung im Consulting und der Automobilindustrie. In Deutschland leitet sie den Bereich „Customer Transformation“, der Kunden industrieübergreifend bei Themen rund um CX, Direct-to-Consumer/E-Commerce, CRM, Loyalty und Service Transformation unterstützt. Anne ist zusätzlich für das globale Automotive Direktvertriebs- und Agenturvertriebsportfolio verantwortlich.