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Versicherer müssen digitale Angebote modernisieren

Alexander Lipskoch
09. Okt. 2020

Teil 1: Versicherer unterschätzen digitale Kanäle

Teil 2: Versicherungen – Erfolg in Vertrieb und Service erfordert eine gute User Experience

Das Frontoffice macht für Kunden den Unterschied

Wenn eine Versicherung wachsen will, braucht sie mehr als nur effiziente Prozesse und gute Produktpreise. Maßgeblich sind neben individualisierten Produkten auch ein individueller Service und vor allem das Kundenerlebnis. Da die Kunden zunehmend digital mit den Versicherern interagieren, spielt die User Experience der Frontoffice-Systeme – der Schnittstelle zum Endkunden – eine immer größere Rolle.

Dies zeigt sich deutlich in der Befragung für den World Insurance Report 2020: Die Kunden sind altersunabhängig zunehmend online-affin. Im Jahr 2019 führten über 60 Prozent der Verbraucher aller Altersgruppen alltägliche Transaktionen online aus. Entsprechend vergleichen die Kunden Versicherer auch verstärkt in Bezug auf das Nutzererlebnis, das sie bieten. So würden sich laut WIR 75 Prozent der Kunden gegen einen Versicherer entscheiden, wenn dieser bei Neuabschluss oder im Service keine zufriedenstellende kanalübergreifende digitale Erfahrung anbieten kann.

Schnittstelle zum Kunden genießt selten Priorität

In unserem letzten Blogeintrag zu diesem Thema haben wir beleuchtet, warum Versicherer die Bedeutung ihrer digitalen Kanäle trotz dieser Zahlen als nur gering einschätzen: Sie beziehen sich dabei weniger auf das grundsätzliche Potenzial als auf ihre aktuell bestehenden digitalen Kanäle. Diese kämpfen häufig mit einer unzeitgemäßen Benutzerführung und historisch gewachsenen Architekturen – mit redundanten Implementierungen von Geschäftslogiken und unperformanten Schnittstellenlösungen in Front- und Backend.

Viel investiert haben Versicherungen in den letzten 10 Jahren in den Backend-Bereich und die digitale Transformation der Kernprozesse. Das hat ihnen ermöglicht, Effizienz zu gewinnen und ihr Geschäft zukunftsfähiger aufzubauen – nicht zuletzt, da die Bestands- und Schadensverwaltung als operatives Herzstück der meisten Versicherungen gilt. Aber: Im Zentrum des Geschäfts steht der Kunde – und was er wahrnimmt, ist das Frontoffice der Versicherung. Damit wird es im Wettbewerb zum wesentlichen Differenzierungsmerkmal – sowohl im Sales- wie auch im Servicebereich. Eine zeitgemäße Frontoffice-Strategie, die gleichermaßen Frontend-Architektur sowie User Experience gestaltet, ist daher essenziell und zeigt unmittelbaren Nutzen an der Schnittstelle zum Kunden.

Effizienz bei Service und Sales durch schlanke Frontoffice-Architektur

Das Erbe der versicherungstypischen, monolithischen Host-Kernsysteme zeigt sich in vielen Frontoffice-Systemen bis heute in redundanten Implementierungen von Geschäftslogik, die früher aufgrund mangelnder Schnittstellen-Integration erforderlich gewesen waren. Dank der heutigen technologischen Grundlagen ist dies nicht mehr notwendig: Ein technisch ideales Frontend enthält keinerlei Geschäftslogik; das Kernsystem fungiert als Single Point of Truth. Das reduziert die Fehleranfälligkeit und beschleunigt die Time To Market.

Möglich ist dies durch eine intelligente API-Integration und die Frontend-Umsetzung auf Basis moderner Technologien wie React oder Vue, die eine komponentenbasierte Architektur ermöglichen. Die Vorteile liegen auf der Hand: API-Integration und wegfallende Geschäftslogik beschleunigen die Entwicklungszyklen. Die genannten Frontend-Technologien bringen vergleichsweise kurze Einarbeitungszeiten mit sich und immer mehr Entwickler beherrschen die relevanten Sprachen Javascript und Typescript. Dadurch können Mitarbeiterallokation und System-Wartbarkeit verbessert werden. Nicht zuletzt lässt sich durch die komponentenbasierte Architektur eine schnelle Wiederverwendbarkeit einzelner Komponenten in verschiedenen Frontoffice-Systemen erreichen.

Und bei aller Bedeutung der Kernsysteme für die effiziente Datenverarbeitung: Als Schnittstelle zum Kunden sind die Frontoffice-Systeme die Voraussetzung für eine gute Datengrundlage und effektive Automatisierung.

Effektive Frontoffice-Systeme brauchen eine gelungene User Experience

Versicherungsprodukte können sehr komplex sein und sind in jedem Fall erklärungsbedürftig. Sie treffen jedoch auf Endkunden, die sich durch zunehmende Erfahrung in digitalen Transaktionen mehr und mehr in der Lage sehen, sich auch zu komplexen Sachverhalten komplett eigenständig zu informieren. Dies zeigt sich daran, dass selbst die Nutzergruppe der Follower (weniger online-affine und weniger aktive Nutzer) mit 38 Prozent am häufigsten Versicherungen online abschließen und somit Online-Kanäle inzwischen die bevorzugten Distributionskanäle für Versicherungen sind; bei digitalen Pionieren liegt der Wert sogar bei 79 Prozent. Umso wichtiger ist es, dass Oberflächen klar gestaltet werden, um die wesentlichen Informationen übersichtlich zu präsentieren und den Kundennutzen hinter jeder Interaktion sichtbar zu machen.

Wichtig ist also eine gelungene User Experience in der Kundengewinnung und -bindung. Diese erfordert ein ansprechendes Design, zeichnet sich jedoch durch wesentlich mehr aus: angefangen von der Vermeidung von Störungen durch eine gute System-Performance über die Unterstützung jedes möglichen Endgeräts per Responsive Design bis hin zur leicht verständlichen Informationsaufbereitung und einer klaren Benutzerführung. Die möglichen Interaktionen des Nutzers müssen auf das jeweilige System und die Zielgruppe zugeschnitten sein.

Gute User Experience zahlt sich aus

Für den Direktvertrieb liegen die Vorteile einer guten User Experience auf der Hand: Werden die zuvor aufgeführten Kriterien erfüllt, steigt die Abschlussrate. Mit entsprechenden Tools sind zudem Analysen bspw. über A/B-Usability-Tests selbst in Produktion problemlos möglich, um die Rate zu optimieren. Eine komponentenbasierte Frontend-Architektur erleichtert zudem die Vernetzung von Sales- und Servicesystemen wie Tarifrechnern und Endkundenportalen, wodurch sich das Potenzial für Cross- und Upselling steigert.

Doch auch der Vermittlervertrieb profitiert von einer gezielten Optimierung der User Experience: Durch Hilfsmittel wie klar strukturierte und interaktive Produktvergleiche kann der Vermittler leichter Beratungserfolge erzielen. Modern aufbereitete Oberflächen lassen sich auch gemeinsam mit dem Kunden nutzen und müssen nicht „versteckt“ werden. Dies erzeugt Vertrauen und gestaltet Beratungsgespräche kommunikativer. Nicht zuletzt reduzieren eine einheitliche Designsprache und konsistente Inhaltsgestaltung der Vermittlersysteme Lernaufwände zum Verkauf neuer Produkte und minimieren die Gefahr einer Falschberatung.

Im Service führen gut gestaltete Portale dazu, dass Kunden häufiger von Self-Service-Funktionen Gebrauch machen und die Bearbeitungskosten für Hellverarbeitungs-Fälle insgesamt sinken. Auf der anderen Seite gilt: Was als Hellverarbeitung vorgenommen werden muss, wird effizienter abgearbeitet, wenn Sachbearbeiter die entsprechenden Ticketsysteme als Hilfestellung und nicht als Herausforderung erleben. Dazu sind eine klare Benutzerführung sowie einfache Datenübernahmen nötig – und im Kontext von New Work ist die Unterstützung mobiler Geräte für Service-Mitarbeiter genauso wichtig wie für Endkunden.

Die Beispiele zeigen: Die Modernisierung der Frontoffice-Systeme und eine positive, kanalübergreifende User Experience ist für die Kundengewinnung und -bindung ebenso wichtig, wie effektive Kernprozesse.


Teil 1: Versicherer unterschätzen digitale Kanäle

Digital-Orientierung in allen Altersgruppen

Die Nutzung digitaler Kanäle zur Recherche sowie für Transaktionen ist heute keine Frage des Alters mehr, sondern generationsübergreifend Normalität. Von den Versicherungskunden der Generation X und früherer Jahrgänge vor 1980 erledigen 53 Prozent ihre alltäglichen Transaktionen wie Einkäufe und Überweisungen online. Dies sind sogar 4 Prozent mehr als bei den Millenials.

Versicherungen trauen digitalen Kanälen wenig zu

Der Report beleuchtet auch, welche Kanäle die Versicherungskunden zur Informationssuche, zum Kauf und für den Kundenservice bevorzugen – und wie dem gegenüber die Versicherer die Effektivität dieser Kanäle jeweils einstufen.

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Abb. 1: Bevorzugte Kanäle für den Kauf bzw. Vertrieb von Versicherungspolicen; Quelle: Capgemini & Efma

Der Blick auf die Kanalvorlieben zum Abschluss einer Versicherung zeigt eine besonders auffällige Diskrepanz zwischen Kunden und Versicherungshäusern: Kunden weltweit kaufen Policen am liebsten über die Webseiten der Versicherer. In Deutschland steht dieser Kanal mit 41 Prozent der Kunden, die darüber Versicherungen abschließen möchten, an zweiter Stelle. Auf der anderen Seite beurteilen nur sehr wenige Versicherer (weltweit 27 Prozent, in Deutschland 12 Prozent) diesen Vertriebskanal als effektiv. Es liegt also ein deutliches Gap zwischen Versicherern und Kunden hinsichtlich ihrer Einschätzung der Bedeutung von Webseiten vor.

Versicherungshäuser modernisieren ihr Online-Angebot

Auch wenn Versicherer eigene Webseiten bislang nicht als effektiv ansehen, verfügen sie in der Regel zumindest über Online-Tarifrechner und häufig auch über Kunden- und Vermittlerportale. Darüber hinaus sind im Markt zunehmend Initiativen zur Bereitstellung und Verbesserung digitaler Lösungen zu beobachten. Versicherungshäuser wollen den Kunden damit ein nutzerfreundliches, nahtlos kanalübergreifendes Kundenerlebnis bieten.

Digitale Kanäle brauchen eine moderne Architektur in der gesamten Anwendungslandschaft

Die Gründe dafür, dass Versicherer ihre eigenen Online-Kanäle als wenig effektiv ansehen, sind vor allem eine häufig unzeitgemäße Benutzerführung und eine Time-To-Market, die nicht den eigenen Erwartungen entspricht hinsichtlich schneller Einführung und Updates der Produktangebote. Die im Einsatz befindlichen Lösungen sind oft veraltet und wartungsintensiv. Aufgrund ihrer Architektur sind sie zudem nur in geringem Umfang modular bzw. flexibel sowie von geringer Performance.

Die Ursachen der eingeschränkten Leistungsfähigkeit liegen nicht nur im Bereich der Portalanwendungen selbst, sondern maßgeblich im Backend der Anwendungslandschaften. Online-Tarifrechner und Portale sind letzten Endes auf das angewiesen, was die Backend-Systeme in Form von Schnittstellen zur Verfügung stellen können. Redundante Implementierungen der Produktlogik und Tarifierung sind auch heute keine Seltenheit. Damit müssen Aufwände für Fachkonzeption, Codierung und Test an mehreren Stellen erbracht werden. Mit diesen Gegebenheiten kann der betreffende Online-Kanal tatsächlich nicht als effektiv angesehen werden.

Modernisierung der Systeme kostet viel Zeit

Andersherum gesprochen: Eine aufgeräumte Landschaft der Backend-Systeme mit einer zentralisierten Produktlogik und sauberen Schnittstellen ist ein entscheidender Hebel, um durchgängig eine automatisierte Verarbeitung zu erreichen. Damit könnten Versicherer Kunden und Vermittlern ihre Produkte und Services nutzerfreundlich und erfolgreich über ihre Online-Kanäle anbieten. Doch die Bereitstellung der Backend-Systeme nebst Schnittstellen sowie die Implementierung digitaler Benutzeroberflächen kostet viel Zeit.

Bei den Portalanwendungen im deutschen Versicherungsmarkt handelt es sich in der Regel um Eigenentwicklungen. Es stellt sich die Frage, wie es mit Standardsoftware im Bereich der Portallösungen aussieht? Im internationalen Umfeld gibt es ein paar Hersteller von Versicherungskernsystemen, die  zusätzlich Lösungen für Tarifrechner sowie für Kunden- und Vermittlerportale anbieten. Ein Vorteil dieses Ansatzes ist, dass die Integration in das Backend dann bereits vorkonfiguriert ist. Wenn die Lösung insgesamt aufgesetzt und etabliert ist, also sowohl die Portalkomponenten als auch die Backend Systeme, lassen sich somit Geschwindkeitsvorteile bezüglich der Bereitstellung neuer Produkte und Angebote erzielen. Auf der anderen Seite müssen Lizenz- und Wartungskosten sowie die zusätzliche Abhängigkeit vom Hersteller, z. B. hinsichtlich technologischer Restriktionen, berücksichtigt werden. Sie betrifft dann auch die Schnittstelle zum Kunden und Vermittler. Bisher machen von der Möglichkeit, Portallösungen eines Kernsystem-Herstellers zu verwenden, in Deutschland nur wenige Versicherungen Gebrauch.

Versicherer können Nutzerfreundlichkeit leicht steigern

Versicherungshäuser stellen online zum Teil bis heute noch pdf-Formulare für Standard-Anliegen bereit. Der Kunde muss die Formulare herunterladen, ausfüllen, ausdrucken und meist postalisch versenden, damit  Versicherungen sie im Inputmanagementprozess wiederum verarbeiten bzw. – im schlechtesten Fall – Versicherungsmitarbeiter die Daten manuell erfassen.

Dieses mühselige Vorgehen können Versicherer ihren Kunden und Mitarbeitern ersparen. PDF- Formulare lassen sich sehr schnell und kostengünstig in moderne Web-Oberflächen überführen und in existierenden Portale und Websites integrieren. Lösungen dafür bieten z. B. EasySend und Adobe.

Es gibt also gute Gründe, warum Versicherer ihre digitalen Kanäle nicht als effektiv ansehen. Viele Häuser arbeiten bereits daran, online mehr zu bieten. Um wirklich besser zu werden, brauchen Versicherungsunternehmen allerdings eine langfristige Strategie und einen langen Atem. Sie sollten auch unbedingt prüfen, wo durch Quick Wins die Digitalisierung einzelner Use Cases möglich ist.

Die Bedeutung digitaler Kanäle wird sicher nicht sinken. Damit wächst der Druck auf die Versicherungsunternehmen, ihren Kunden und Vermittlern moderne, benutzerfreundliche Lösungen für Informationssuche, Kauf und Kundenservice bereitzustellen.

Was trauen Sie Ihren digitalen Kanälen im Kundenkontakt bisher zu? Wo stehen Sie bei ihrer Reise zur Optimierung der digitalen Schnittstelle zu Kunden und Vermittlern? Welche Ansätze halten Sie für vielversprechend? Ich freue mich auf Ihre Sichtweise des Themas.

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Autor

Alexander Lipskoch

Als Principal Enterprise Architect, der seit über 20 Jahren in der Versicherungsbranche tätig ist, unterstütze ich Versicherer bei den Themen digitale Versicherungsarchitektur und Kerntransformation in den Geschäftsbereichen Leben, Gesundheit und P&C.

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