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Warum der Abschluss eines Leasingvertrags so einfach sein sollte wie der Online-Kauf eines Buches

Dr. Michael Zellner
19. Nov. 2020
capgemini-invent

„78 % der Automobilkunden würden heute ein Auto mit höherer Wahrscheinlichkeit online kaufen als vor der Pandemie – die Erhöhung des digitalen Reifegrades der Captives ist wichtiger denn je.“

Schon jetzt steht fest, dass 2020 eines der außergewöhnlichsten Jahre des digitalen Zeitalters wird. Neben zahlreichen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen hat der Ausbruch von COVID-19 den Bedarf an digitalen Produkten und Dienstleistungen erhöht. 78 Prozent der Automobilkunden würden heute ein Auto mit höherer Wahrscheinlichkeit online kaufen als vor der Pandemie [1]. Deshalb sind durchgängige, digitale Verkaufsprozesse unabdingbar, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein. Das zeigt auch die Tatsache, dass ein Drittel aller Kunden sie inzwischen sogar fordert [1].  Dementsprechend wundert es nicht, dass der Börsenwert von Unternehmen wie Amazon, Apple oder Tesla in den letzten sechs Monaten deutlich gestiegen ist. Die Bereitstellung oder Erleichterung durchgängig digitaler Prozesse hat ihnen ermöglicht, mit ihren Kunden aus der Ferne und ohne physische Interaktion in Kontakt zu treten, was sie während einer Pandemie ziemlich krisensicher macht. Gleichzeitig sind die Automobilverkäufe weltweit eingebrochen. Autohäuser waren wochenlang geschlossen, Fabriken standen still und Kunden hatten nur sehr wenige Möglichkeiten, ein Auto von zu Hause aus zu kaufen, zu leasen oder zu finanzieren. Einige Captives haben bereits Projekte angestoßen, um den Online-Verkauf von Fahrzeugen zu ermöglichen. Viele Lösungen sind aber noch nicht marktreif.

„Es war uns wichtig, die Perspektive des Kunden einzunehmen – den Kunden in den Mittelpunkt zu stellen.“

The DMA evaluates the digital maturity of selected Captives and banks based on a detailed criteria catalogue.
Abbildung 1: The DMA evaluates the digital maturity of selected Captives and banks based on a detailed criteria catalogue.

Digital Maturity Assessment bewertet Automobil-Captives

Capgemini Invent hat zum vierten Mal in Folge das Digital Maturity Assessment (DMA) durchgeführt. Das jährlich erscheinende DMA evaluiert und bewertet den digitalen Reifegrad ausgewählter Automobil-Captives und Banken mit Schwerpunkt Automobilfinanzierung auf der Grundlage eines detaillierten Kriterienkatalogs. Die Ergebnisse wurden in die drei Digital Maturity-Dimensionen „Digital Point of Sales“, „Antragsprozess“ und „Kundenservice“ geclustert. Dabei war uns wichtig, die Kundenperspektive einzunehmen und den Käufer in den Mittelpunkt zu stellen.

In diesem Jahr lag der Schwerpunkt der Analyse auf Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Schweden, den USA und China. In diesen Ländern bewerteten wir die allgemeine Marktreife der ausgewählten 19 Akteure, untersuchten aktuelle Markttrends im Captive-Bereich und bewerteten ihre digitale Leistungsfähigkeit. Überraschenderweise lag die durchschnittliche digitale Reife aller 19 Akteure in der Dimension „Digital Point of Sales“ nur bei 51 %. Ein Grund dafür ist, dass nur 16 % der Captives und Banken anbieten, Kreditentscheidungen online auf der Grundlage der von Kunden bereitgestellten Daten mitzuteilen.

Overall maturity of 19 selected players per dimension
Abbildung 2: Overall maturity of 19 selected players per dimension.

„Die durchgängige Digitalisierung des Verkaufsprozesses ist eine der größten Hürden für Captives und Banken gleichermaßen.“

Herausforderungen

In einem kürzlich geführten Interview sagte der CEO eines Captives, dass sein Unternehmen „mit der durchgängigen Digitalisierung des Verkaufsprozesses kämpfe“. Damit ist er sicherlich nicht allein. Sie ist aber der Kern des Online-Verkaufs und ein wichtiger Teil der Bewertungskriterien im Cluster „Digital Point of Sales“. Im Zeitalter von Amazon, Apple, Alibaba und Co. sind Kunden vollständig digitale Prozesse von der Suche über die Auswahl bis zur Zahlung und der Nachverfolgung des Bestellstatus gewohnt. Beim Kauf eines Autos erwarten sie ähnliche Möglichkeiten, und zwar nicht nur die digital versierte Generation X. Eine Studie aus dem Jahr 2020 in der Versicherungsbranche [2] zeigt beispielsweise, dass es fast keinen Unterschied mehr zwischen verschiedenen Altersgruppen in Bezug auf ihr Online-Verhalten gibt: 49 % der Millennials und 53 % der Gen-X führen Online-Transaktionen auf ähnlichem Niveau durch.

Deshalb müssen Captives versuchen, die Erwartungen der Kunden zu erfüllen und einen bequemen, digitalen Verkaufsprozess anzubieten, bei dem Finanzdienstleistungsprodukte wie Leasing oder Finanzierung nahtlos in den Einkaufsprozess integriert werden. Viele Captives stehen bei der Entwicklung und Integration eines einheitlichen, durchgängigen, digitalen Prozesses vor großen Herausforderungen. Dazu zählen organisatorische Silos, Altsysteme oder kulturelle Auseinandersetzungen bei der Digitalisierung. Im Gegensatz dazu ist die größte Hürde für OEM-unabhängige Banken die fehlende direkte Anbindung zur Online-Präsenz und zu den Produkten des Herstellers.

Der Aufwand für die Digitalisierung der Einkaufs- und Service-Prozesse ist für Banken und Captives jedoch gleich hoch. Hinzu kommt „die organisatorische Restrukturierung und die entsprechend notwendige Veränderung (und deren Management)“, so der Leiter der Personalabteilung einer Finanzorganisation.

Chancen

Aber wie bei allen Herausforderungen gibt es auch Chancen sowie Maßnahmen, um sowohl langfristig Lösungen umzusetzen als auch kurzfristig Erfolge zu erzielen.
Ein Beispiel ist der Leasing- oder Finanzierungsantrag. Als Voraussetzung für einen vollständig digitalen Prozess muss sich der Kunde online identifizieren und legitimieren können. Anschließend erfolgt die Bonitätsprüfung durch den Finanzdienstleister. Aufgrund der Art des Prozesses und der zu durchlaufenden Schritte gehört er zu den zeitintensivsten und komplexesten. Er kann durchgängig digitalisiert werden, indem eine benutzerfreundliche Oberfläche mit dem vorhandenen Banking-Backend verbunden wird. So eine Lösung realisierte Capgemini bereits für die BMW Group. Die Lösung beinhaltet die gesamte Abwicklung des Verkaufs von Finanzdienstleistungen wie dem Leasing eines Fahrzeugs, der Beantragung eines Kredits oder der Eröffnung eines Einlagenkontos bei der BMW Bank. In wenigen einfachen Schritten erhält der Kunde ein individuelles Angebot, gibt seine persönlichen Daten ein, führt eine Sicherheits- und Bonitätsprüfung durch und unterschreibt elektronisch den endgültigen Vertrag. Standardisierte Prozesse gewährleisten, dass die Lösung skalierbar ist und in vielen Ländern eingesetzt werden kann.

Darüber hinaus gibt es inzwischen Unternehmen, die den gesamten Legitimationsprozess für Online-Transaktionen übernehmen und deren Lösungen über APIs in die IT-Landschaft des Finanzdienstleisters integriert werden kann. Diese Produkte ermöglichen auch die Nutzung digitaler Signaturen. Damit wäre die laut Aussagen von Leasingexperten höchste Hürde des digitalen Antragsprozesses überwunden: die Online-Identifikation und -Legitimation des Kunden.
Als Argument gegen einen vollständig digitalen Prozess hören wir häufig, dass der Mangel an menschlicher Interaktion die Kundenzufriedenheit reduziert. Und ja, es ist wichtig zu bedenken, dass zunehmend digitalisierter Kundenkontakt auch den entsprechenden Omnichannel-Kundenservice erfordert. Das amerikanische Fintech-Unternehmen „Quicken Loans“ hat jedoch bewiesen, dass durchgängig digitale Prozesse und zufriedene Kunden kein Widerspruch sind. „Quicken Loans“ ist nicht nur der volumenstärkste Hypothekenfinanzierer in den USA, sondern steht auch bei der Kundenzufriedenheit auf dem ersten Platz.

Letztendlich werden Service- und Verkaufsprozesse in allen Branchen immer digitaler werden. Aufgrund ihrer Erfahrung damit erwarten auch Automobilkäufer zunehmend digitale Prozesse. Dementsprechend müssen Captives und Banken schnell einen hohen digitalen Reifegrad entwickeln. Denn nur so bleiben sie wettbewerbsfähig und werden den Anforderungen ihrer Kunden gerecht.

Vielen Dank an die Co-Autoren Karl Pollinger, Evelyn Gabrysch und Benjamin Wiederkehr.


[1] Capgemini-Kundenumfrage zur Erholung der Automobilverkäufe (2020)

[2] Capgemini Financial Services Analysis, 2020; Capgemini Voice of the Customer Survey 2018, 2019, 2020

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Autor

Dr. Michael Zellner

Executive Vice President | Global Account Executive Mercedes-Benz & Daimler Truck, Capgemini Invent
Seit mehr als zwei Jahrzehnten liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit bei Capgemini Invent auf der Automobilindustrie und der Finanzwirtschaft. Dabei konnte ich vielfältige Erfahrungen von Restrukturierungen und Reorganisationen bis hin zu Verbesserungen in den Operations und der IT sammeln. Eines blieb allerdings immer gleich: Meinen Kunden dabei zu helfen, ihr volles Potenzial durch Innovation und Digitalisierung zu erreichen.