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Model-Based Systems Engineering auf dem Weg zur Schlüsseltechnologie für die agile Produktentwicklung der Zukunft

Udo Lange
22. Juli 2020
capgemini-invent

Model-Based Systems Engineering macht die steigende Systemkomplexität und Interdisziplinarität beherrschbar

Die traditionelle Produktentwicklung wird den gestiegenen Ansprüchen heutiger Anwendungsfälle nicht mehr in vollem Umfang gerecht. Durch den rasanten technologischen Fortschritt in der Entwicklung besitzen heutige Systeme einen signifikant größeren Funktionsumfang als noch klassische, rein mechanische Systeme. Die Kombination mit weiteren Aspekten, wie strengere Dokumentationsanforderungen und global verteilte R&D bzw. Produktion, hat zur Folge, dass sich der Entwicklungsschwerpunkt weg von der reinen Produktentwicklung hin zur Entwicklung von ineinandergreifenden und hochvernetzten funktionalen Gesamtsystemen verschiebt. Die Anzahl an integrierten Bauteilen, Funktionen und Interaktionen wächst innerhalb dieser Gesamtsysteme stetig. Hierdurch entstehen sogenannte „System-of-Systems“. Zusätzlich erfordern äußere Einflüsse, wie die sich kontinuierlich ändernden Anforderungen aller beteiligten Stakeholder, ein hohes Maß an Agilität sowie Organisations- und Kommunikationsfähigkeiten innerhalb des gesamten Produktentstehungsprozesses. Durch MBSE wird die Beherrschung dieser wachsenden Systemkomplexität und Interdisziplinarität von Systemen mithilfe von durchgängigen Prozessen, Methoden und Tools ermöglicht. Zusätzlich bietet der Einsatz einer modellbasierten Arbeitsweise die Chance, Kosten sowie Time-to-Market zu reduzieren, die Kommunikation zu verbessern und eine agile Systementwicklung zu befähigen. Zentral hierbei ist, dass durch virtuelle Simulation auf Basis von Modellen Fehler frühzeitig im PEP aufgedeckt und behoben werden.

Das Systemmodell steht im Fokus der Entwicklung

Klassische dokumentenbasierte Systems Engineering Ansätze weisen Inkonsistenzen, wie beispielsweise mangelnde Nachverfolgbarkeit (Traceability) zwischen Anforderungen und Systemelementen innerhalb der Entwicklung auf. Um diesen Unzulänglichkeiten zu begegnen, werden Model-Based Systems Engineering Ansätze eingesetzt (siehe Abbildung 1). MBSE ermöglicht, alle Ergebnisse verschiedener Entwicklungsaktivitäten (Mechanik, Elektronik und Software) in einem zentralen gemeinsamen Systemmodell zu dokumentieren und jedem Stakeholder kontextspezifisch zur Verfügung zu stellen. MBSE fordert deshalb den Wandel von einer heterogenen, dokumentenbasierten Vorgehensweise hin zu einer Zusammenarbeit, die auf konsistenten und vernetzten Systemmodellen basiert. Das International Council on Systems Engineering (INCOSE) definiert Model-Based Systems Engineering als die formalisierte Anwendung der Modellierung, um die Aktivitäten zu Systemanforderungen, Architektur, Analyse, Verifikation und Validierung von Beginn der konzeptuellen Architekturphase über die Entwicklung bis zu den späteren Phasen des Systemlebenszyklus zu unterstützen (vgl. Übersetzung von Weilkiens 2019, S. 21). Die Modellierung des Systems ist für MBSE von grundlegender Bedeutung. Diese basiert dabei auf den drei Elementen Sprache, Werkzeug und Methode.

Abbildung 1 Vom dokumentenbasierten zum modellbasierten Systems Engineering
Abbildung 1: Vom dokumentenbasierten zum modellbasierten Systems Engineering

In seiner Vision 2025 beschreibt INCOSE die modellbasierten Ansätze als Standard im zukünftigen Systems Engineering. Bereits heute benutzt der Großteil der Unternehmen mit Entwicklungsaktivitäten Systems Engineering Ansätze in der Produktentwicklung – Tendenz weiter steigend. Die zu entwickelnden Produkte wandeln sich zunehmend hin zu komplexen funktionalen Systemen. Ein solches funktionales System besteht aus einer Reihe unterschiedlicher Elemente aus den Engineering-Domänen Mechanik, Elektrik/Elektronik und Software, die untereinander in Beziehung stehen. Bei einem MBSE Ansatz werden diese Einzelsysteme in Modellen abgebildet und fachdisziplinübergreifend in einem Systemmodell beschrieben. Dieses ist über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg konsistent und kohärent und stellt damit den wichtigsten Bestandteil des Ansatzes dar. Im Kern des Model-Based Systems Engineerings steht somit das Systemmodell, welches die Grundlage für die Kollaboration zwischen den beteiligten Disziplinen in der Organisation darstellt.

Model-Based Systems Engineering befähigt eine agile Systementwicklung

Auch in der Entwicklung ist das Stichwort Agilität derzeit allgegenwärtig. Der Grund liegt auf der Hand: es ist heute wichtig wie nie zuvor, neue hochkomplexe technische Produkte zu entwickeln und dabei die Time-to-Market so kurz wie möglich zu halten. Wie bereits in der Einleitung erläutert, ist der traditionelle Systems Engineering Ansatz hinsichtlich steigender Komplexität und unterschiedlicher Entwicklungsmodelle der einzelnen Domänen (Mechanik, Elektronik und Software) nicht mehr ausreichend und bedarf zu dessen Beherrschung modellbasierte Ansätze. Ein zentraler Benefit des modellbasierten Ansatzes ist die Befähigung der agilen Systementwicklung auf unterschiedlichen Ebenen entlang des V-Modells (siehe Abbildung 2):

  • Der Einsatz von Simulationen ermöglicht frühzeitiges Lernen durch Testen und Validieren spezifischer Systemmerkmale, -eigenschaften oder -verhaltensweisen, bevor ein physischer Prototyp gebaut wird. Ein modellbasiertes Vorgehen unterstützt damit fast learning cycles (vgl. hierzu SAFe Principle #4 – Build incrementally with fast, integrated learning cycles). Dies ermöglicht bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Produktentwicklungsprozess Feedbackschleifen. Somit können Risiken frühzeitig erkannt und vorgebeugt werden.
  • Die kontinuierliche Validierung von Produkten verringert Unsicherheiten im Entwicklungsprozess. Fehlentwicklungen werden früher erkannt und behoben. Durch die Integration der Teilsysteme werden zuvor unbekannte Abhängigkeiten aufgezeigt. Auf diese kann die Entwicklung besser reagieren und dadurch das Risiko von hohen Kosten und Zeitverzügen durch späte Änderungen minimieren.
  • Die regelmäßige Integration des Systems in der agilen Produktentwicklung verbessert die Transparenz bezüglich des Produktreifegrades. Nur ein funktionierendes Produkt zeigt echten Fortschritt, während wasserfallartige Planungen und Spezifikationen komplizierte Abhängigkeiten möglicherweise übersehen.
  • Automatisierte Teststrategien und insbesondere integrierte Entwicklungs- und Testumgebungen mit dem damit verbundenen Einsatz von X-in-the-loop Testing gewinnen stark an Bedeutung. Die unterschiedlichen Techniken wie Model-, Software-, Processor- und Hardware-in-the-Loop sowie Rapid-Control-Prototyping werden in den Produktentstehungsprozess eingebunden und unterstützen während der Entwurfs-, Integrations- und Testphase. Durch die fortlaufende, iterative Verprobung wird das Produkt bei laufender Entwicklung validiert und so die Spezifikation direkt abgesichert.
Abbildung 2 MBSE als Enabler für die agile Systementwicklung
Abbildung 2: MBSE als Enabler für die agile Systementwicklung

MBSE für Ihr Unternehmen

Model-Based Systems Engineering ermöglicht eine agile Produktentwicklung und stellt die Schlüsseltechnologie für die Systementwicklung der Zukunft dar. Die Umsetzung muss jedoch individuell an Ihr Unternehmen angepasst werden, sonst droht diese zu scheitern. Fest steht ebenso: MBSE ist ein zunehmend strategischer Erfolgsfaktor, den Unternehmen meistern müssen. Bewerten Sie selbst, in wieweit modellbasiertes Systems Engineering für Ihr Unternehmen entscheidend ist.

Lesen Sie in unseren folgenden Beiträgen, wie MBSE Ihnen hilft aktuelle Challenges zu bewältigen. Lesen Sie auch, welche Voraussetzungen für die gesamtheitliche Einführung notwendig sind und wie Sie Model-Based Systems Engineering in Ihrem Unternehmen zum Erfolgsmodell machen!

Im 2. Artikel Wie eine gesamtheitliche MBSE Einführung mit Hilfe eines holistischen Vorgehensmodells gelingt“ zeigen wir auf, wie bei einer MBSE Einführung vorgegangen werden sollte.

Vielen Dank an die Co-Autoren Verena Gertz, Sebastian Stieber und Yannick Scheler.

[1] Huth, T., Vietor, T., Systems Engineering in der Produktentwicklung: Verständnis, Theorie und Praxis aus ingenieurswissenschaftlicher Sicht. Gr Interakt Org 51, 125–130 (2020).
[2] https://www.scaledagileframework.com/Model-Based-systems-engineering/
[3] https://www.incose.org/products-and-publications/se-vision-2025
[4] Weilkiens, T., Systems Engineering mit SysML/UML. Anforderungen Analyse Architektur. 3. überarbeitete und aktualisierte Auflage. Heidelberg: dpunkt.verlag (2019).


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Autor

Udo Lange

Expertise: Digital Engineering and Asset Management, High Tech Solutions, Industrie 4.0, Intelligent Industry, Product Lifecycle Management
Mit 5 Jahren Industrie- und 20 Jahren Beratungserfahrung berate ich Kunden in der Automobilindustrie, Aerospace, Transportation sowie dem Maschinen- und Anlagenbau bei der Entwicklung und Umsetzung erfolgreicher Strategien zur Nutzung Digitaler Technologien und Prozesse im Bereich Engineering und Product Lifecycle Management.

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