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Healthcare UX: Wie die Digitalisierung im Gesundheitswesen nutzerzentriert werden kann

Anne Stahl
07. Juni 2022

Alle reden darüber, aber keiner tut es.

Der Patient steht im Mittelpunkt: Dieser ethische Leitsatz ist einer der wichtigsten Aspekte der Gesundheitsversorgung. Im Rahmen der digitalen Transformation des Gesundheitssystems erhält er noch einmal eine ganz neue, grundlegende Bedeutung – mit Blick auf die Nutzerzentrierung digitaler Anwendungen. Tatsächlich wird der Nutzerzentrierung eine ähnlich hohe Bedeutung wie der Cybersecurity beigemessen. Aber anders als digitale Sicherheit spielt die User Experience in der Umsetzung bislang kaum eine Rolle.

Und das, obwohl ungefähr ein Drittel der Beschäftigten im Gesundheitswesen „[…]an mindestens 3-5 Tagen pro Woche Frustration mit der Technologie [erfährt]“, wie eine aktuelle US-Studie ergab. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass Frustration und Burnout die Folge sein können, „wenn Endnutzer bei der Gestaltung […] neuer Technologien nicht ausreichend berücksichtigt oder in der Anwendung […] geschult werden“.

Eine weitere Studie aus Schweden über die Zufriedenheit mit digitalen Tools zur Selbstüberwachung und Kommunikation von Patientinnen und Patienten mit dem Gesundheitswesen kam zu dem Schluss, dass „Designer digitaler Gesundheitstechnologien grundlegende psychologische Bedürfnisse in allen Bereichen der Benutzererfahrung berücksichtigen müssen, von der Schnittstelle bis zum Leben im Allgemeinen“.

Usability ist nicht User Experience

User Experience (Nutzererfahrung, UX) ist nicht das gleiche wie Usability (Verwendbarkeit). Im Gesundheitswesen, insbesondere bei Medizinprodukten wie MRT-Geräten, EKGs oder Insulinpumpen, ist Usability eine Voraussetzung für die Zulassung und wird daher immer berücksichtigt. Der für die Zertifizierung genutzte IEC 62366-1 Standard soll dabei aber in erster Linie „die Verwendbarkeit eines Medizinproduktes in Bezug auf die Sicherheit analysieren, spezifizieren, entwickeln und bewerten“.

Das Ziel von UX besteht jedoch darin, während der gesamten Interaktion eine positive Benutzererfahrung (einschließlich Sicherheit) zu gewährleisten. Positive Nutzererfahrung bedeutet dabei im Unterschied zur Usability auch, Frustrationen zu vermeiden und eine einfache, erfreuliche, effektive und reibungslose Verwendung von Anwendungen und Systemen sicherzustellen.

„Wie genau wollen wir ein menschenzentriertes, wertorientiertes, sicheres und einfach zu handhabendes, digitalisiertes Gesundheitswesen schaffen, wenn wir die Nutzer aus dem Prozess ausschließen?“

Die Antwort darauf ist so einfach wie einleuchtend: Das wird uns nicht gelingen ohne die Nutzer in den Prozess einzubeziehen. Die Perspektive der Nutzer muss integraler Bestandteil der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens hin zu einem digitalisierten Gesundheitswesen sein. Hierzu braucht es Expertenwissen, Erfahrung, analytisches und kreatives Denken sowie Zeit und Geld. Doch Krankenhäuser, Versicherungen und Hersteller müssen heutzutage oftmals mit engen finanziellen Ressourcen wirtschaften. Es wird also versucht zu sparen. Und das beginnt dort, wo das Verständnis am geringsten ist – leider ist das häufig UX. Aber…

…schlechte Benutzererfahrung ist teuer

Laut einer Studie aus den USA verursacht die schlechte Nutzererfahrung des EHR (was unserer elektronische Gesundheitsakte entspricht) Frustration und in der Folge sogar Burnout. Wenn wir Patienten, Pflegepersonal, Ärzte und anderen Mitarbeitenden im Gesundheitswesen zuhören, hören wir immer wiederkehrende Aussagen: Ja, jeder versteht, dass Technologie uns helfen könnte, bessere Ergebnisse zu erzielen – aber so wie bisher kann das nicht funktionieren!

Ein Beispiel ist die elektronischer Patientenakte (ePA). Seit 2021 steht (endlich) allen gesetzlich Versicherten in Deutschland eine ePA zur Verfügung. Dafür haben die Gematik und die gesetzlichen Krankenversicherungen gesorgt. Die verschiedenen offiziellen ePA Apps haben alle Sicherheitskontrollen bestanden. Und der Patient hat dabei die Datenhoheit! How cool is that?!

Oder doch nicht so cool? Viele Kliniken oder Praxen können die ePA eigentlich noch gar nicht unterstützen. Sie gilt als schwierig und frustrierend in der Anwendung und  Patienten wissen oft noch gar nichts von ihr. Patientenvertretungen kritisieren, dass die ePA „eine nutzlose leere Hülle“ ist, bis Ärzte sie mit Leben (Daten) befüllen. Diese jedoch bemängeln den Aufwand sie anzubinden und zu bedienen, und stellen oft gar das Grundkonzept, dass Patienten die Datenhoheit haben sollten, in Frage.

Das Beispiel verdeutlich: Eine menschenzentrierte Gesundheitsversorgung kann nur dann erreicht werden kann, wenn alle Beteiligten schon in der Konzeption einbezogen werden.

Mythos von UX im Gesundheitswesen

Es ist ernüchternd, wieviel Widerstand es gegen die Digitalisierung im Gesundheitswesen gibt, von Ärzten, Pflegepersonal genauso wie von Patienten. Einer der Hauptgründe ist, dass viele Healthcare-Apps und -Systeme trotz ihres Hypes nur bedingt bedienbar sind, und mehr Frustration als Mehrwert verursachen, weil UX- oder HCD-Experten nicht in der Konzeption und Entwicklung beteiligt waren. Und tatsächlich scheint es eine erstaunliche Lücke an UX-Fachleuten im Gesundheitswesen zu geben.

„5 – 15 % [aller Entwicklungsprojekte] werden […] wegen schlechter UX aufgegeben.“

In der kommerziellen Softwareentwicklung kennen wir dieses Problem nur zu gut. Trotz des Bestrebens agil und nutzerzentriert zu sein, werden nur selten entsprechende Fachleute in Projekte einbezogen. ‚Zu teuer‘ heißt es oft. Noch teurer aber ist meist das Versäumnis, da Anwendungen oftmals im Nutzertest durchfallen und die Entwicklung abgebrochen wird, die Produkte also gar nicht erst auf den Markt kommen, oder Anwendungen auf dem Markt schlicht nicht genutzt (oder gekauft) werden, wenn sie den Nutzern nicht gefällt oder nicht den entsprechenden Mehrwert liefert.

Doch die kommerzielle Softwareentwicklung hat das schnell gelernt und so werden mittlerweile bei fast allen Projekten UX-Fachpersonen miteinbezogen und für die Nutzerzentrierung entsprechend Zeit und Budget mit eingeplant. Das beginnt bei den ersten Ideation- und Konzeptionsworkshops und geht bis hin zur iterativen Verbesserung nach einem ersten Launch.

Auch für Digitalisierungsprojekte im Gesundheitswesen muss UX-Expertise einbezogen und die Nutzerzentrierung in den gesamten Prozess mit eingeplant werden.

Es wird Zeit, nicht mehr nur davon zu reden, den Patienten in den Mittelpunkt des Gesundheitswesens zu stellen, sondern auch die entsprechenden Maßnahmen zu treffen. UX-Fachleute müssen von Anfang an in die Entwicklung von Digitalisierungsvorhaben einbezogen werden – also schon bei der Konzeption! Nach einem ersten Piloten oder Phasen-Launch müssen Anwendungen entsprechend weiter optimiert werden.

Lassen Sie uns diskutieren, welche Expertise für Digitalisierungsvorhaben mit optimaler Nutzererfahrung notwendig ist!

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Autorin

Anne Stahl

Experience Design, UX Strategy and UX-med
Anne Stahl bringt mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung aus dem Silicon Valley in den Bereichen UX, Front-End und digitale Strategie mit, die sie bei führenden Kunden in der deutschen Gesundheits-, Versicherungs- und Automobilbranche gesammelt hat. Sie ist verantwortlich für die Entwicklung talentierter User-Experience-Experten und hilft ihnen, das UX-Servicespektrum von Capgemini zu erweitern, das von UX-med über User Research und Ideation, Konzept und Planung, Analyse und Audits, Designsysteme bis hin zu UX Runway in der agilen und schlanken Produktentwicklung reicht.